Stefanie Scheurell

Chicorée Z.
Anna Martinez Rodriguez Zur Arbeit Chicorée Z.  

Kennengelernt haben sich die Künstlerin und ihre männliche Muse im Frühjahr 2019. Nachdem sie sich öfter in einer Turnhalle über den Weg gelaufen waren – sie spielte dort Volleyball, er jonglierte –, begegneten sie sich irgendwann zufällig im Dampfbad. Nackt.
Den Betrachter*innen zeigt sich der Protagonist des künst­lerischen Projekts ebenfalls nackt. Bei der Jonglage. Im Sonnenschein. In der freien Natur. Braun gebrannt vor blauem Himmel im grünen Schilf stehend, wirft er gelbe Bälle in die Höhe. Die runden Kugeln durch die Luft wirbelnd, scheint er ein andauerndes Innehalten in der Bewegung zu verkörpern. Die Bälle wieder und wieder aus seinen Hand­flächen in die Umgebung, um ihn abgebend, erschafft er eine beständige Produktion von Moment. Er ist ein (Sinn­)Bild von Konzentration und Präsenz. Doch damit verbunden ist auch die Anstrengung dieses Jongleurs, einem Hier und Jetzt nicht zu entfleuchen. Sich nicht zu entziehen. Nicht auszuweichen. Die Jonglage bedeutet einen Anker zur Welt.
Es war auch zur Chicoréesaison im Herbst 2019, als die Künstlerin beschloss, ein Porträt ihres Freundes zu beginnen. Wie so vieles andere in der darauffolgenden Zeit der Corona­ Pandemie wurde der Arbeitsprozess durch die Schließung der Grenze fast unterbrochen. Die beiden trafen sich über zwei Monate hinweg am provisorisch aufgestellten Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen, und Christian berichtete Stefanie aus seinem Leben.
Christian lebt mit und in den Jahreszeiten. Ist es nicht der Chicorée, dem er sich widmet, so ist es anderes Obst und Gemüse. Oft ist er dicht am natürlichen Wachsen.
Am Werden. Am Leben. Gleichzeitig führt ihn diese Arbeit aber auch an Stellen des Überflusses und zu den wenig charmanten Momenten der Konsumgesellschaft. Nicht jedes Gemüse oder Obst, das geerntet wird, ist schließlich schön und damit gut genug, um in den Verkauf zu gehen. Chris­tian nimmt sich dieses unglamourösen Überflusses an. Er schätzt ihn wert, nutzt ihn, erkennt sein Potenzial. Und ver­wandelt ihn. Neben der Arbeit im Grünen und der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung war Christian schon Weihnachtsbaumverkäufer, Casserollier in Großküchen, verlegte Steine, stellte Baugerüste auf, hängte tonnenweise Eisen und Stahl an Rechen zum Verzinken auf, machte Umzüge, arbeitete in Forstbetrieben, als Dachdecker und Masseur, kümmerte sich um Hunde, Katzen und Kühe und reinigte im belüfteten Schutzanzug die großen Rohre von Müllverbrennungsanlagen.
Stefanie Scheurell abstrahiert die Charakterzüge und die Geschichte ihrer Muse. Sie verhaftet Christians Leben erzäh­lerisch in Dingen und Lebewesen, die ihn begleiten und Tätigkeiten, die ihn ausmachen. Diese orchestriert sie zu einem Porträt, einem temporären Einblick in sein Leben. Dabei erhöht sie manche Aspekte, umkreist, umgeht, ergänzt, verändert und gewichtet um. Ihre künstlerische Äußerung zum Leben ihres Freundes zeichnet das Bild­fragment einer Biografie – gleichermaßen präzise seziert und doch mit all den luftigen Leerstellen, die die Erzählung eines solchen Lebensausschnitts haben muss.
Anna Martinez Rodriguez